Schweigen

Franziska Schlegel
6 min readMar 10, 2022

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“Ich habe Wochen gebraucht, bis ich mich an meine Lieblingsfarbe und mein Lieblingsessen erinnern konnte. Da war einfach nichts mehr da von meinen Lieblingen in meiner Erinnerung.” Marie bleibt plötzlich stehen, als wäre ihr diese Erkenntnis erst in diesem Moment mit voller Wucht in den Sinn gekommen, sodass sie sich nicht mehr auf das Gehen konzentrieren kann. Ihre Mutter Sonja dreht sich nach ihr um und schaut Marie fragend an, woraufhin diese ergänzt: “So sehr habe ich verbissen versucht mich abzulenken und mich irgendwann nicht mehr wiedererkannt.” Die beiden laufen weiter durch den grellgrünen Wald, nun schweigend. Die Sonne erleuchtet die zarten Frühlingsblätter an den Laubbäumen, die Schatten auf den weichen Waldboden vor ihnen werfen. Es riecht nach feuchter Erde und ihre dumpfen Schritte dringen in das Schweigen ein. Sonja lässt die Worte ihrer Tochter in ihrem Kopf nachklingen, als würde sie jeden Satz immer und immer wieder hören. So wie man manchmal Sätze immer und immer wieder liest und beim dritten Mal immer noch nicht verstanden hat, worum es geht, weil man sich einfach zu wenig auf ihre Bedeutung konzentriert. Da war einfach nichts mehr da von meinen Lieblingen in meiner Erinnerung. Wie kann man vergessen, was man liebt?
Die nachdenkliche Stille zwischen Mutter und Tochter hält an. Sie bemerken vor lauter Nachdenken und Stillsein beide den lebendigen Wald nicht, der ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, nachdem er monatelang still und nahezu durchsichtig war, ohne Blätter, grau und hinter Nebelschwaden verborgen. Während Sonjas Gedanken noch der Bedeutung der kraftlos ausgesprochenen Worte ihrer Tochter nachhängen, überlegt Marie, wie es ihr im Moment geht. Besser, aber nicht gut. Sie ist entspannter, aber nicht erholt. Sie ist wieder kräftiger, aber nicht so stark wie zuvor. Der Entschluss sich von ihrem Mann scheiden zu lassen hatte sie die letzten Monate enorm viel Kraft gekostet und sie hatte geglaubt, es würde das Chaos in ihrem Innern von selbst entwirren, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle mit niemandem besprach und beiseite schob wie eine lästige Fliege.
Marie und Sonja biegen am Waldrand rechts ab in einen Feldweg, der sie entlang der gepflügten Felder zurück zu Sonjas Haus führt, in dem Marie mit ihren zwei großen Brüdern aufwuchs. “Mama schmeißt den Laden” hatten die drei Geschwister immer gescherzt, sowohl in Bezug auf die Tatsache, dass Sonja ihre drei pubertierenden Kinder allein erziehen musste, als auch darauf, dass sie nicht nur Geschirrtücher auf den Boden warf, wenn ihr alles zu viel wurde. Die Scherben der zerbrochenen Gläser oder Teller fegten die Kinder wortlos zusammen und spendeten Trost, indem sie einfach nur da waren für ihre Mutter. Zusammen schweigend auf dem Sofa liegend oder Labyrinth der Meister am Küchentisch spielend, ein Spiel das alle vier mochten, weil dabei kaum gesprochen werden musste. Das Schweigen gehörte in ihrer Familie zum Alltag dazu, das merkt Marie auch jetzt wieder, während des Spaziergangs mit ihrer Mutter durch das Frühlingsgrün ihrer Heimat. Früher liebte sie das familiäre Schweigen und das Zuhören um zu verstehen und nicht um zu antworten, wenn die einsamen Gedanken in seltenen Fällen doch laut geteilt wurden. Sie liebte es, verstanden zu werden, egal was sie tat und was sie sagte, wenn sie denn etwas sagte. Das Schweigen wurde in der Familie nie als Strafe eingesetzt, niemand wurde schweigend ignoriert oder mit einer unbeantworteten Frage allein gelassen. Es wurde eingesetzt um zu zeigen, dass der Bruder, die Schwester oder die Mutter dem anderen Familienmitglied zuhörte, um zu verstehen. Geantwortet wurde nur, wenn dies gewünscht war, meistens diente das Erzählen lediglich dem Sortieren und Klären der Gedanken. Marie merkte schnell, dass sie sich Freundinnen oft nicht anvertrauen konnte, da diese immer passende Ratschläge geben wollten. Sie wollten helfen, indem sie Szenarien durchspielten, Fragen stellten und dabei erwartungsvoll von Marie eine Entscheidung hören wollten. Nur um bestätigt zu bekommen, dass sie der bessere Kummerkasten waren als die anderen Freundinnen. Während Marie mit ihrer Mutter den gepflasterten Weg entlang des hellgelb verputzten Hauses zur Haustür läuft, begreift sie jedoch, dass ihre Mutter sie dieses Mal nicht versteht. Sie will um einen Ratschlag bitten, wie sie mit dem Kapitel der gescheiterten Ehe abschließen kann und somit endlich wieder den Weg zu sich finden kann, aber sie weiß nicht, wie sie diese Bitte in Worte fassen soll. Etwas in Worte fassen. Als könnte man Worte anfassen und in ein Gefäß füllen. Dieses Wortgefäß würde sie ihrer Mutter wortlos in die Hand drücken in der Hoffnung, dass diese versteht, was sie beschäftigt. Sonja schließt die alte Holztür mit den Einfassungen aus Glas auf und dreht den Türknauf. Als Marie ihren dünnen Mantel auszieht und die Tür hinter sich schließt, spürt sie die warme Hand ihrer Mutter auf ihrer linken Schulter. Diese Berührung erinnert Marie an unzählige tröstende Momente aus ihrer Kindheit. An die tröstenden Hände ihrer ebenso schweigsamen Tanten, Onkel und entfernten Großtanten, die sie bei der Beerdigung ihres Vaters mehrfach mal auf der linken und mal auf der rechten Schulter spürte. Nur eine Tante sagte damals etwas, mehr in die Runde statt direkt zu Marie, als diese zitternd und tränennass mit ihren neun Jahren am Grab ihres Vaters stand. Der festsitzende Kloß in ihrem Hals glich einem großen Stein, spitz, trocken und unbeweglich: “So jung und schon Halbwaise! Meine Kleine!” Dann doch lieber zurückhaltendes Schweigen. Damit kam Marie klar. Ein andermal einige Monate nach der Beerdigung ihres Vaters legte ihr ihre strenge Klavierlehrerin die Hand sanft auf den angespannten Unterarm, als sie gerade zwanghaft versuchte das zu spielen, was Mozart rund zweihundert Jahre zuvor als Zehnjähriger komponiert hatte. Ihre Lehrerin befahl mit ihrem markanten russischen Akzent: “Marie, heute du solltest Kind sein. Nicht Wunderkind wie Mozart, auch nicht Sorgenkind. Einfach Kind.” und klappte ruckartig den Tastendeckel herunter. “Eisdiele nebenan hat beste Eis in Stadt. Schokolade und Vanilleeis macht alle Kinder glücklich.” Gemeinsam saßen sie kurz darauf mit dem Eis in der Hand in der Sonne auf den klebrigen Plastikstühlen vor der Eisdiele und Marie war froh, dass sie Kind sein durfte. Ein Kind, das schweigend trauert, mit zwei tröstenden Kugeln Schoko- und Vanilleeis in der Waffel.
Die warme Hand ihrer Mutter liegt immer noch auf ihrer Schulter. Sie fühlt sich immer schwerer an. Marie überlegt, was sie sagen soll. Und ob sie überhaupt etwas Erklärendes sagen soll, damit ihre Mutter sie endlich versteht. Aber früher ging es doch auch ohne erklärende Worte. “Schweig mich nicht an! Frag doch endlich, wie es mir geht, verdammt!” denkt sie laut im Innern. “Komm mit mir in die Küche, Marie.” sagt ihre Mutter und ist schon auf dem Weg dorthin. Marie folgt ihr wortlos und lässt sich auf den Küchenstuhl vor der Heizung sinken, an dem Platz wo sie seit ihrer Kindheit immer sitzt. Jeder in der Familie hat seinen festen Platz, wobei sie als Kind klug den Platz gewählt hatte, der am weitesten entfernt von der Küche lag. So hatte sie eine Ausrede dafür, nicht sofort aufspringen und helfen zu können, da sie an ihrem Stammplatz eingekeilt zwischen ihren Brüdern saß. Ihre Mutter deckt den alten zerkratzten Glastisch mit zwei kleinen Löffeln und zwei großen geblümten Teetassen. Das Wasser im Wasserkocher beginnt bereits zu sprudeln und Sonja füllt Kräutertee in ein Teesieb, während Marie ihre Füße durch den Glastisch hindurch betrachtet und nachdenkt. Warum verhält sich ihre Mutter so nüchtern, so wortkarg? Sonja holt zwei kleine gefüllte Glasschälchen aus dem Kühlschrank und stellt sie auf den Küchentisch. Sie setzt sich neben Marie an den Tisch und schweigt eine Weile während sie mit dem kleinen Löffel in ihrem Schokodessert rührt. Irgendwann beginnt sie zu sprechen, als hätte sie die richtigen Worte ganz unten im Glasschälchen gefunden “Ich weiß nicht immer ohne Worte, was du brauchst, was du denkst und was du fühlst. Manchmal braucht es mehr Worte um zu verstehen, Marie. Auch ich bin schweigsam, genau wie du. Diese manchmal für andere und auch für mich anstrengende Eigenschaft haben du und deine Brüder von mir geerbt. Euer Vater war, wie du dich hoffentlich erinnerst, derjenige, der immer redete, egal ob er im Urlaub die Landessprache beherrschte oder nicht und egal, ob man ihn nach etwas gefragt hatte oder nicht. Ich liebte ihn dafür, da er mir die Last nahm, sprechen zu müssen, wenn ich lieber schweigen wollte. Ich spüre, dass dich etwas bedrückt. Aber es tut mir wirklich leid, dass ich es weder hören, sehen, fühlen noch schmecken kann.” Sonja lächelt warmherzig und schaut ihre Tochter an, die spürt, wie ihre Kehle zugeschnürt wird. Dabei wollte sie eben einen Löffel des schokoladigen Desserts nehmen. Und dann noch einen und noch einen, um nicht weinen zu müssen. Ihre Kehle wäre so voller Schokolade, dass kein Schluchzen daran vorbei käme. Marie legt den Löffel beiseite und atmet tief ein und aus. Nicht schon wieder weinen. Sie überlegt, wie sie sich dieses Mal aus der Situation befreien kann, in der ihr wieder droht weinen zu müssen. Sie kann nicht mehr, will nicht mehr weinen. “Du hast das Riechen vergessen, Mama.” bringt sie mit gepresster Stimme hervor. Marie kommt ein Lächeln über die Lippen, sie atmet noch einige Male ein und aus und der Kloß im Hals wird allmählich kleiner. Er verschwindet zwar nicht ganz, dennoch lässt er einige Löffel Schokoladendessert und all die Worte vorbei, die ihrer Mutter erklären, was sie seit Monaten bedrückt.

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