Foto von Irina Iriser auf pexels.com

In der Rilkestraße

Franziska Schlegel
8 min readJun 29, 2022

--

Ich laufe an der wilden zugemüllten Brachfläche rechterhand entlang, biege am durchbrochenen Gartenzaun rechts ab und spähe nach der nächsten Einmündung in der Häuserzeile, die mich zur kurzen Rilkestraße führt. Ich wundere mich über die Bezeichnung Straße, denn von der stark befahrenen Hauptverkehrsstraße wirkt die mit Pollern abgegrenzte Rilkestraße eher wie ein Rilkeweg. Ich biege rechts zwischen den Pollern hindurch ab, um mein Ziel zu erreichen. Ich komme an einer “Zu verschenken”-Kiste vorbei und frage mich, ob die Bücher darin nach dem beginnenden Regen nicht noch unattraktiver sein werden für die wenigen Passanten. Rund zwanzig Meter vor mir erkenne ich den kleinen begrünten Wendehammer, den ich auf Google Maps bei meiner Recherche bereits entdeckt hatte und linkerhand das Haus, auf dessen Leerstand mich eine aufmerksame Bürgerin hingewiesen hat. Man sieht das Haus vor lauter Bäumen nicht. Meterweit das Haus überragendes Gestrüpp, dunkles Grün wo einst der Garten war. Ich bin begeistert, aber spüre sofort einen Anflug von Ärger darüber, dass jemand jahrelang solch eine kleine Villa am Rande der Altstadt verfallen lässt. Ich schleiche an den wenigen parkenden Autos vorbei, um ein Foto schießen zu können. Rundherum stehen gepflegte alte Stadtvillen mit gemütlichen Vorgärten. Das Verkehrsrauschen dringt zwischen den Bäumen und Häusern hindurch. Es ist Ende Februar, das dichte Laub und die Blüten an den Bäumen werden ab März sicherlich einen großen Teil des Lärms schlucken, sodass man sich in einer eigenen abgeschirmten Welt wiederfinden wird. Ich stehe mitten in der Stadt und habe doch das Gefühl in einem alten Wohngebiet am Stadtrand zu sein. Ich laufe die rund zehn Meter des Grundstücks des zugewachsenen hellgelb verputzten Hauses entlang und entdecke eine verblichene und zerrissene Deutschlandflagge, die beim Auszug wohl nicht wichtig genug war. Ein roter alter Porsche steht in der schmalen Einfahrt vor dem Haus. Eine braune Biomülltonne steht links hinter dem geschlossenen Tor und erweckt den Anschein, als wäre das Haus vor wenigen Jahren oder sogar Monaten noch bewohnt gewesen. An der rechten Hauswand hängt träge eine weitere Deutschlandflagge in der Windstille. Ich lasse meinen Blick weiter am Haus entlang schweifen und entdecke mit kurzem Erschrecken eine Überwachungskamera, die an einem Mast gegenüber vom Haus angebracht ist. Sie ist allerdings auf das Haus gerichtet und nicht auf die Rilkestraße, in der ich stehe. Sicherlich dient sie nur als Abschreckung, damit keine Hausbesetzer oder Einbrecher auf böse Gedanken kommen. Ich stelle mir vor, wie das Haus früher von innen aussah und wie ein Samstagnachmittag einer dort wohnenden Familie ablaufen könnte.
Über drei Stufen erreiche ich eine Holztür mit Glaseinfassungen, durch die ich einen schmalen Windfang betrete. Dort stehen die ausgetretenen Schuhe der Kinder, damit sie nicht den Dreck von Draußen in den Hausflur tragen. Beim Öffnen der zweiten Tür in den Hausflur rieche ich eine Mischung aus dem alten Holz der knarrenden Dielen, dem leicht harzig-rauchigen Geruch, der aus dem lodernden Kamin kommt und dem süßlichen Duft des Kirschkuchens, der in der Küche steht. Die Kirschen aus dem Garten werden jedes Jahr von Oma Trudi geerntet, die das Haus ihrer Tochter überlassen hat und in eine kleinere Wohnung in Serach gezogen ist. Am jährlich stattfindenden “Kirschsamstag” wagt sie sich mit der Leiter weit nach oben, um eimerweise Kirschen abzuzupfen und bis in die späten Abendstunden mit ihren rot gefärbten Händen einzukochen. Ein paar Schritte weiter, wenn ich vor der nach Kuchen duftenden Küche links abbiege, komme ich in das nach Süden gerichtete Wohnzimmer. Ein altes dunkelbraunes Klavier steht an der Wand, Bücher stapeln sich darauf, ergänzt um eingestaubte Kerzen auf kleinen Ziertellerchen. Auf dem alten Eichenholztisch, in den sich die Jahrzehnte in Form von Kratzern und Macken verewigt haben, steht eine Obstschale, aus der ein Fruchtfliegenschwarm lautlos aufsteigt, als ich daran vorbeigehe. Die Mutter Katja legt Holz nach, damit das Feuer im Kamin nicht ausgeht und man in dem alten Haus im kalten Februar nicht frieren muss. Sie schließt die Kamintür, die mit einem Quietschen einrastet und geht zum alten Holzschrank, um den Eichenholztisch mit bunten IKEA-Tellern und Blümchentassen zu decken. Ihr Mann Andreas kommt gerade aus dem Garten und läuft durch den Flur mit seinen Arbeitsschuhen in der rechten Hand, aus deren Profil feuchte Gartenerde rieselt. Er trägt sie schnell Richtung Windfang, bevor Katja es sieht. Er ruft nach den drei Kindern im Teenageralter im oberen Stockwerk, denen jeweils eines der kleinen Kinderzimmer gehört. Nach der Ältesten muss er mehrmals rufen, da sie mit der Rockmusik das halbe Haus beschallt und seine Rufe nicht hört. Im Gästebad links des Windfangs wäscht Andreas seine erdigen Hände und wechselt die Hose. Seine Arbeitshose wirft er die Kellertreppe hinunter, sodass der Großteil des Weges Richtung Waschmaschine schon überbrückt ist. In der Küche wartet der aufgebrühte Kräutertee darauf serviert und getrunken zu werden und der Kaffee läuft gurgelnd und fauchend durch den Filter der Kaffeemaschine. Der starke Duft des Filterkaffees scheint wie unsichtbare Nebelschwaden direkt in meine Nase zu schweben und gibt dem sonnigen Februartag eine angenehme Schwere, sodass ich mich sofort wohl fühle in der Gemütlichkeit des alten Hauses. Die moderne Einbauküche mit den grauen matten Fronten stellt einen Kontrast zu den rosa-lindgrün gemusterten alten Fliesen an der Wand hinter der Arbeitsfläche dar, die rund einhundert Jahre zuvor beim Bau des Hauses eingebaut wurden und so gut erhalten sind, sodass sie bei der Renovierung der Küche vor fünf Jahren bleiben durften. Katja schneidet den frischen Kirschkuchen an und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich beobachte sie grinsend, wie sie sich einen großen karamellbraunen Streusel in den Mund schiebt und die restlichen Streusel mit dem Löffel verteilt, sodass man das Loch nicht sieht. Ein Stück des Kuchens schneidet sie ab und schiebt es auf einen kleinen Teller, um es später dem Nachbarn Herr Ellwanger zu bringen, der immer nach dem Garten schaut, wenn die Familie im Urlaub ist. Tom und Lea, die beiden jüngeren Kinder sitzen schon am Esstisch im Wohnzimmer und Mia, die Älteste, die die Rockmusik gnädigerweise ausgemacht hat, schlurft die alte Holztreppe herunter. Es scheint, als könnte man an der Lautstärke und Art des Knarrens und Knarzens der Holzstufen erkennen, wie derzeit die Laune der Kinder ist. Mia betritt das Wohnzimmer und nimmt sich wortlos ein Stück Kuchen und will sich gerade auf das graue große Sofa fallen lassen, die Hand bereits Richtung Fernbedienung ausgestreckt, als ihr Vater Andreas sie streng anschaut und sich demonstrativ räuspert. Wenn Katja und Andreas gefragt werden würden, was sie über das alte Haus, das sie seit bald zwölf Jahren bewohnen, erzählen würden, würde ihnen als Erstes einfallen, dass im Wohnzimmer mindestens genauso oft gelacht wie geweint und gestritten wird. Das Wohnzimmer ist der einzige Ort, an dem sich “die Fünf”, wie Oma Trudi sie nennt, wenigstens einmal am Tag alle zusammen begegnen. Die drei kleinen Kinderzimmer im Obergeschoss waren früher ihr privater Treffpunkt, wo ohne Eltern gespielt, gestritten und um das Holzobst und die Plastikbutter im Kaufladen gefeilscht wurde und wo sie sich erwachsen fühlten. Jedes Kind durfte sich beim Einzug eine Farbe aussuchen, in der die eigenen vier Wände gestrichen wurden. Die alten Möbel gehörten größtenteils Katja und ihrem kleinen Bruder Martin, die in dem Haus aufwuchsen und später auszogen, um das erste Mal von zu Hause wegzukommen. Das beige geflieste Bad mit Badewanne, Duschvorhang, Waschbecken und Toilette teilten sich die Fünf die ersten Jahre, bis sie das Gäste- und Arbeitszimmer im Erdgeschoss neben dem Wohnzimmer verkleinerten, um das Gäste-WC links neben dem Windfang um eine Dusche ergänzen zu können.
Nachdem jeder seinen Kuchenteller in die Spülmaschine geräumt hat und sich wieder seiner Nachmittagsbeschäftigung widmet, geht Katja in den Flur des Obergeschosses und öffnet dort die kleine Tür, die sie über eine schmale Holztreppe nach oben auf den Dachboden führt. Oma Trudi wird in zwei Monaten siebzig und Katja plant ein Fotoalbum zu gestalten, mit alten Fotos aus der Kindheit ihrer Mutter, die sich ebenfalls größtenteils im Haus in der Rilkestraße abspielte. Katja geht gebückt bis in die hinterste Ecke des dunklen Dachbodens und weicht stöhnend der herabhängenden Glaswolle aus, vor der sie bereits als Kind von ihrem Vater gewarnt wurde. Repariert wurde das Dach dennoch nie. Es riecht staubig und muffig nach alten Dingen, die höchstens einmal im Jahr hervorgeholt werden und sicherlich noch hier oben liegen werden, wenn das Haus an die Kinder vererbt wird. Katja weiß genau, in welche Ecke sie steuern muss, um die Fotokiste mit zwei Handgriffen aus dem alten Regal zu ziehen. Staub wirbelt in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf und kitzelt in meiner Nase, als Katja die Kiste bis zur obersten Treppenstufe zieht. Sie freut sich schon darauf die schönsten Fotos auszusuchen, wenn sie am Abend auf dem Sofa sitzt und sich nochmal ein Stück Kirschkuchen zum Nachtisch gönnt. Nachdem Katja die staubige Fotokiste im Flur auf den Boden gestellt hat, geht sie zunächst in die Küche, wo sie den vollen Mülleimer aus der Schublade unter der Spüle herausnimmt, um den bereits Fruchtfliegen schwirren. Sie geht über die Terrasse in den Garten, wo die Mülltonnen unter einer Einhausung aus Holz stehen. Ich folge ihr, da ich noch den Garten sehen möchte, dessen erdiger Geruch mir kühl entgegenweht, als ich einen Schritt auf die Terrasse mache. Katja winkt kurz zu Andreas hinüber, der mit einem Akkuschrauber die letzten Schrauben in die Verkleidung des Hochbeets dreht, das ab März mit Gemüse bepflanzt wird. Ich lasse meinen Blick über den Garten schweifen, der an der Grundstücksgrenze zum Nachbarhaus von Hecken und Haselnusssträuchern gesäumt wird und entdecke einen kleinen grau gestrichenen Schuppen, vor dem Andreas Werkzeugkiste steht. Katja kippt die Bioabfälle aus dem Mülleimer direkt in die Tonne, die sie dann hinter sich her nach vorne Richtung Einfahrt zieht, gut sichtbar für die Müllabfuhr, die am nächsten Tag wieder ihre Runde dreht. Der Gestank des Biomülls vermischt sich mit dem frischen warmen Duft nach Duschgel, der aus dem gekippten Badfenster direkt neben der Einfahrt nach draußen dringt. Ich höre jemanden leise singen und das Rauschen eines Wasserhahns. Ich trete neben Katja auf den schmalen Gehweg um ihr Platz zu machen, damit sie die Mülltonne gut sichtbar in die Einfahrt schieben kann, als sie plötzlich verschwindet. Katja ist einfach weg. Ich bin überrascht und verstehe zunächst nicht was passiert ist. Ich blicke zu dem Haus, das mich freundlich empfangen hatte und sehe nun wieder die zugewucherte verblichene Fassade und das dunkle Grün, das das Grundstück nach außen abschottet. Ich starre auf die grauen Pflastersteine der Einfahrt, die überwuchert sind mit Unkraut, das bis zu den krummen Eingangsstufen des Hauses wächst, das ich noch vor rund einer Stunde betreten hatte. Die Glaseinfassungen der Eingangstür sind stellenweise gesprungen und es schimmert kein Licht hindurch. Ich nehme nur einen feuchten Geruch von Erde und Pflanzen wahr, der Gestank nach Biomüll und der Duft des frischen Duschgels sind schlagartig verschwunden. Das Badfenster ist verschlossen und ich höre nichts, außer dem Verkehrsrauschen der angrenzenden großen Straßen. Keine Musik, kein Wasserrauschen, keinen Akkuschrauber. Ich höre nichts, das auf Leben in diesem Haus hinweist. Ich laufe einige Schritte über die schmale Straße zum gegenüberliegenden Gehweg und blicke erneut zu dem zugewachsenen Haus. Ich entdecke wieder die zerschlissene Deutschlandflagge, die Überwachungskamera und den alten Porsche und die Biomülltonne, die auch heute noch in der Einfahrt stehen.

--

--

Franziska Schlegel
Franziska Schlegel

Written by Franziska Schlegel

writing, mindfulness, psychology

No responses yet