Leeres Nest

Franziska Schlegel
4 min readDec 9, 2022

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Foto von Elizabeth tr Armstrong auf Pexels

Heute Nacht habe ich auf dein Kissen geheult. Zum Glück hatte ich mich gründlich abgeschminkt, sonst würdest du die Flecken bei deinem nächsten Besuch bemerken. Ich bin dann auf dem nassen Fleck eingeschlafen und mitten in der Nacht aufgewacht, weil er kalt war. Dann habe ich kurz gelacht und dann sofort daran gedacht, dass ich ja gerade traurig bin und keinen Grund zum Lachen habe. Ich habe das Kissen dann umgedreht und später wieder darauf geheult. Dann waren beide Seiten nass. Verdammt. Das Kissen roch noch nach dir und deinem Lieblings-Shampoo, das ich dir immer ins Gästebad stelle, damit du selbst keines mitbringen musst und leichteres Gepäck hast. Genauso mache ich immer den Trockner vor deinem Besuch an, damit du mal weiche Handtücher und weiche Bettwäsche hast.
Ich hoffe, du kommst bald wieder. Wann, das kannst du mir nie sagen. Ich grübelte heute Nacht darüber nach, ab wann es in Ordnung sei, dich zu fragen, wann du das nächste Mal zu Besuch kommst und konnte dann irgendwann gar nicht mehr schlafen. So entschied ich, das Licht anzumachen und mich in deinem Zimmer umzuschauen. Ein paar Sachen hast du dagelassen. Alte Bilderrahmen mit Fotos von deinen Schulfreunden, deine Jugendbücher und den alten Ohrensessel von deinem Opa. Der passt nicht in dein kleines WG-Zimmer, hast du beim Auszug gesagt. Ich habe ihn vor rund dreißig Jahren bei meinem Auszug aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen, damals war er noch mit einem karierten Stoff bezogen. Das habe ich dir nie erzählt, dass das nicht der originale Stoff ist, mit dem der Sessel jetzt bezogen ist. Gleich bei der ersten Party, die wir in meiner WG in Heidelberg feierten, hat jemand auf den Sessel gekotzt. Dieser jemand wurde später trotzdem dein Vater. Ihm tat es unglaublich leid, sodass er versprach, am nächsten Tag zum Putzen zu kommen und den Sessel komplett neu zu beziehen. Er holte mich und den Sessel trotz Kater am nächsten Tag ab und wir fuhren in seinem hellblauen, vermackten Kastenwagen in die Werkstatt seiner Eltern. Das hat mich beeindruckt, sag’ ich dir! Ich war sofort begeistert von den ganzen Maschinen, schönen Stoffen und den Ergebnissen der sorgfältigen Handwerkskunst. Ich durfte einen Stoff für den Ohrensessel aussuchen und sogar einen weiteren für ein Paspelband. Dein Vater hat mir dann erklärt, wie er den Sessel neu bezieht und weil das und er selbst mich so fasziniert haben, kam ich in den nächsten Tagen mehrmals in die Werkstatt seiner Eltern. Den Rest der Geschichte kennst du ja. Wir verliebten uns, ich brach mein Philosophiestudium ab, um eine Ausbildung als Raumausstatterin zu machen und dein Vater machte seine Meisterprüfung als Schreiner. Irgendwann zogen wir dann in ein altes Haus in einem Heidelberger Vorort und sanierten, renovierten und schreinerten in jeder freien Minute, bis du irgendwann auf die Welt kamst.
Jetzt erst verstehe ich meine Eltern, wie es ihnen wohl ging, als ich damals auszog. Und dann auch noch, um Philosophie zu studieren! Dass ich einen Schreiner und keinen langhaarigen Philosophen zu einem meiner ersten Besuche daheim mitbrachte, beruhigte sie dann wieder. Wir erzählten ihnen die Ohrensessel-Geschichte, als sie fragten, wie wir uns kennengelernt hatten, dichteten aber statt des Erbrochenen eine Rotweinflasche als Grund für den neuen Bezug dazu. Das klang harmloser.
Als ich heute Nacht in deinem Zimmer wach lag, habe ich mich gefragt, ob du dich manchmal einsam fühlst in deinem kleinen Zimmer in deiner WG. Und ob der Sessel etwas daran ändern würde, wenn er denn Platz auf den teuren zehn Quadratmetern hätte. Dann würdest du öfter mal an deine Kindheit und Jugend denken, während der du häufig im großen Ohrensessel saßt und deine Fantasyromane verschlungen hast. Die rosa Blümchen auf dem hellgrünen Bezug und die beigen Paspeln würden gut zu den beige gestrichenen Wänden und dem hellen Dielenboden passen. Dann hättest du aber keinen Platz für die Gästematratze. Und die Möglichkeit, Übernachtungsgäste zu haben, ist wichtiger als Opas Ohrensessel, in dem man schlecht für Prüfungen lernen kann, das verstehe ich schon. Aber der Sessel bedeutet mir viel und ich war ein bisschen enttäuscht, dass du ihn nicht mitgenommen hast, weil ich dachte er würde auch dir viel bedeuten und er würde dich an zu Hause erinnern. Aber ich muss wohl nicht nur dich loslassen, sondern auch die Vorstellung, dass du dein Zuhause vermisst. Und dass es für dich nur ein Zuhause geben kann. Immerhin kommst du alle paar Monate übers Wochenende zu Besuch, sofern es dein Zeitplan zulässt und dein neuer Freund keine anderen Pläne für dich hat.
Oft ist die Rede vom Loslassen und davon, dass das besser sei. Quälende Erinnerungen, die letzten spätsommerlichen Sonnenstrahlen, die eigene Jugend und nun dich soll ich loslassen. Ich lasse los, du lässt los und nichts und niemand hält dich fest. Und wenn ich dich doch mal wieder halten will, dann bist du da. So habe ich es mir vorgestellt, dieses Loslassen. Du hättest einfach auf die Welt losgelassen werden können, völlig losgelöst von allem. Aber nun bist du weg, losgelöst von mir und hältst dich woanders fest und wirst dort festgehalten. Nur eben nicht hier.
So wie das Loslassen läuft, habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich heulte heute Nacht also nicht nur deswegen in dein Kissen, weil ich dich so sehr vermisse. Sondern vielmehr deswegen, weil ich so enttäuscht bin von diesem Loslassen, das so unfair sein kann, weil du jetzt frei genug bist, um von jemand anderem festgehalten zu werden.

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Franziska Schlegel
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Written by Franziska Schlegel

writing, mindfulness, psychology

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