Frutti di Bosco

Franziska Schlegel
9 min readApr 10, 2022

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Foto von Karolina Grabowska von Pexels

Gestern war ich im Discounter um die Ecke meiner neuen Wohnung, in der ich erst seit drei Tagen wohne und stand vor dem brummenden meterlangen Eisfach. Ich war auf der Suche nach Vanilleeis und musste plötzlich über das ganze Gesicht grinsen. Ich murmelte “Frrruuti di Boscou” mit amerikanisch-rollendem R, wie es unser Au-Pair-Mädchen aus Pennsylvania früher aussprach. Gretchen. Ich konnte dem Impuls nicht widerstehen das billige und künstliche Eis zu kaufen, das ich seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gegessen hatte. Auf dem Heimweg rief ich sofort meine kleine Schwester Teresa an, um ihr von meiner Entdeckung zu erzählen. Während wir gemeinsam am Telefon lachten, kilometerweit voneinander entfernt und über unsere Erinnerungen an das Eis mit Frutti di Bosco-Geschmack und über Gretchen sprachen, wippte das kühle Eis in der Tasche bei jedem Schritt sanft gegen meinen Oberschenkel. Als ich wenige Minuten später auflegte und voller Vorfreude meine Wohnungstür aufschloss, ging ich als erstes in die Küche, ohne meine Schuhe auszuziehen, öffnete mit ungeduldigen Fingern die Eisbox, entfernte die dünne Plastikfolie und löffelte das Eis direkt heraus. Der süße und markante Geschmack des Eises versetzte mich innerhalb von Sekunden zurück in meine Kindheit.

Gretchen lebte ein Jahr lang bei uns zu Hause, als meine Mutter in Somalia als Frauenärztin arbeitete. Das war Mamas Traum, den sie sich dank unseres Vaters erfüllen konnte, der in der Heimat seiner Arbeit nachging und sich um Teresa und mich kümmerte. Wir waren nicht nur die einzige Familie mit Au-Pair-Mädchen im Dorf, sondern auch die einzige, in der die Mutter im Ausland arbeitete und der Vater zu Hause blieb. Gretchen wurde von Teresa und mir vom ersten Tag an gehänselt wegen ihres Namens, was sie überhaupt nicht verstand. In ihrer Heimat wurde ihr immer erzählt, der Name stamme aus Deutschland und sei dort sehr beliebt. Wir zogen das R immer künstlich gerollt in die Länge und schoben ein “tschn” hinterher, sodass es eher klang wie “Grrrrääätschn”. Wir fragten uns, wer seinem Kind solch einen dämlichen Namen gab. Gretchen bewohnte das Gästezimmer im Haus meiner Eltern, das direkt neben meinem Zimmer lag. Die meiste Zeit war sie tagsüber aber bei meiner Schwester und mir, entweder im großen Garten hinter dem Reihenendhaus, in dem wir wohnten, oder im Wohnzimmer und versuchte zu verhindern, dass wir Schwestern uns die Köpfe einschlugen. Wenn Teresa und ich in der Schule waren und mein Vater arbeitete, war sie in der nächsten größeren Stadt und lernte dort Deutsch in einem Vormittagskurs. Auf dem Heimweg besorgte sie im Supermarkt öfter etwas zum Abendessen, sodass wir uns überraschen lassen mussten, was sie uns abends auftischte. Gretchens Urgroßmutter war mit ihrer Familie von Deutschland in die USA ausgewandert und hatte ihre Kenntnisse über die deutsche Hausmannskost an viele Generationen weitergegeben, weshalb die deutschen Gerichte über Jahrzehnte hinweg in abgewandelter und amerikanisierter Form bei der Familie Schneider in Pennsylvania gekocht wurden. Also kochte Gretchen öfter Käsespätzle, die sie Spätzle “à la mac’n’cheese” nannte und Maultaschen, die wir ihr als “mouthbags” übersetzten. Sie erklärte uns, in ihrer Familie hießen sie schlicht “swabian ravioli”. Einmal zeigte Gretchen unserem Vater, wie man Maultaschen zubereitete, so wie sie es gelernt hatte. Beide standen am Wochenende vor Ostern in der Küche, Brät klebte in Gretchens braunen Locken und mein Vater fluchte, weil die fettige graue Füllung im Kochtopf schwamm statt in der Teigtasche zu bleiben. Teresa und ich naschten die zerfledderten klebrigen Maultaschen, schauten den beiden zu wie sie irgendwann die Lust verloren und sich bemühten sich nicht gegenseitig anzuschnauzen und wir schüttelten nur den Kopf. Eine Amerikanerin namens Gretchen zeigt einem Schwaben wie man Maultaschen zubereitet. Am Ende des Tages blieben nur zwei schöne Maultaschen für jeden übrig, aber Teresa und ich waren nach der Nascherei ohnehin schon satt und hatten Bauchschmerzen wegen der fettigen Füllung.
Gretchen bemühte sich wirklich, aber es schmeckte alles immer fettig und käsig und nicht annähernd so gut, wie wenn unsere Mama kochte. Das ließen wir Gretchen andauernd wissen, indem wir mit dem Essen spielten und ihr einmal sogar laut kreischend vor Begeisterung zeigten, wie die Gabel in den Käsespätzle senkrecht stecken blieb ohne umzukippen. Wir waren undankbar und machten es ihr die ersten Wochen nicht leicht. Ich hörte sie ab und zu vor dem Einschlafen mit ihrem “boyfriend” im Gästezimmer nebenan telefonieren und jedes Mal hörte ich sie weinen. Genervt drehte ich mich im Bett hin und her und stellte mir ihren Freund vor, der tausende Kilometer entfernt und sechs Stunden hinterher am Nachmittag das Geheule seiner Freundin anhören musste und im Kopf die Dollar überschlug, die der Anruf kostete.

Zu meinem elften Geburtstag wünschte ich mir Frutti di Bosco-Eis, wie es meine Mama zu besonderen Anlässen immer zubereitete. Im Garten meiner Oma drei Straßen weiter gab es Brombeeren, Johannisbeeren, Himbeeren und kleine Walderdbeeren, die meine Mama in cremiges Sahneeis mischte und eine Handvoll Früchte zu einer dunkelroten, fast schwarzen Sauce pürierte und damit das Eis dekorierte. Ich knallte Gretchen am Tag vor meinem Geburtstag einfach nur den Satz “Ich will Frutti di Bosco-Eis an meinem Geburtstag” hin und ließ sie damit allein. Ich wusste, dass ich von ihr bekommen würde, was ich wollte, da sie von uns gemocht werden wollte. Schließlich würde ihr das Jahr in Deutschland noch weniger gefallen, wenn sie zwei freche Schwestern Tag für Tag bespaßen musste, die keine Lust auf sie hatten. Ich war gespannt, was ich am nächsten Tag zum Nachtisch bekommen würde, sicherlich hatte sie keine Ahnung, was Frutti di Bosco bedeutete und wie man das Früchte-Eis zubereitete. Gretchen rief mir noch verzweifelt fragend hinterher “Frrruuti di was?”, aber ich war schon kichernd auf dem Weg in Teresas Zimmer, um mit ihr Wetten abzuschließen, ob Gretchen es schaffen würde, den richtigen Nachtisch zuzubereiten. Am nächsten Tag war dann endlich mein großer Tag. Endlich elf. “Herzlichen Glückwunsch zur ersten Schnapszahl” waren die ersten Worte meines Vaters, der mich fest umarmte. Er hatte mir eine heiße Schokolade zubereitet, deren Duft sich mit dem der frischen Brezeln vermischte. Ich setzte mich verschlafen an den Küchentisch und öffnete als erstes Mamas Brief. Telefonieren war zu teuer und daher nur ganz selten möglich und E-Mails gab es noch nicht, daher trösteten wir uns mit handgeschriebenen dicken Briefen meiner Mutter, in denen sie von ihren schönen, spannenden wie auch manchmal traurigen Erlebnissen in Somalia berichtete. Dieses Mal hatte sie sogar einige Fotos mitgeschickt, auf denen sie schwitzend und braun gebrannt mit ihrem wehenden weißen Arztkittel in die Kamera lächelte, manchmal umgeben von ihren Arztkollegen oder den Bewohnerinnen der Einrichtung, in der sie Schwangere behandelte.
Am Abend nach der bunt belegten Pizza, die wir im Steinofen im Garten gebacken hatten, gab es dann endlich mein heiß ersehntes Frutti di Bosco-Eis, oder zumindest das, was Gretchen verstanden hatte. Sie kam mit angespanntem Gesicht und einem Tablett, das sie in ihren verkrampften Händen hielt in den Garten. Auf dem Tablett rutschten vier gefüllte Glasschälchen klirrend hin und her. Ich sah schon von weitem den unnatürlichen pinken Farbton des Eises, das durchzogen war mit einer cremeweißen Eisschicht, die glänzende lilafarbene Sauce und die weißen Schokoladenflocken. Dieses Zusammenspiel ließ das Eis wie ein billiges Kunstwerk wirken. Es sah scheußlich aus, künstlich, klebrig, pink, ungesund. Teresa und ich liebten es von der ersten Sekunde an. Ich merkte Gretchen ihre Anspannung bis zu dem Moment an, wo ich den ersten Löffel aß und freudig lächelte, weil mich der künstliche süße Geschmack tatsächlich an Frutti di Bosco erinnerte. Bis dahin hatte sie vermutlich geglaubt, sie hätte auf ganzer Linie versagt.
Am Geburtstagsabend lag ich um kurz vor zwölf vollgestopft mit Pizza, Eiscreme und mindestens einem Liter Spezi im Bauch in meinem Bett und starrte auf Mamas Brief, der aufgefaltet auf meinem Nachttisch lag und von der kleinen alten Nachttischlampe hell erleuchtet wurde. Ich hatte ihn am Morgen schnell gelesen, bevor ich zur Schule musste und wollte ihn nun ein zweites Mal lesen. Ich war den ganzen Tag abgelenkt gewesen. Es gab Kuchen und ein Geburtstagsständchen in der Schule. Nach der sechsten Stunde hatte mich mein Vater mit dem Fahrrad abgeholt, er hatte sich den Nachmittag meines großen Tages freigenommen. Ich durfte auf seinem Gepäckträger sitzen und so fuhren wir gemeinsam zu Oma, die knapp einen halben Kilometer von der Schule entfernt wohnte. Dort gab es Fingernudeln mit rosa Sauce, wie ich es immer nannte, weil ich alle schmalen Finger meiner linken Hand in die Penne steckte und sie in die Ketchup-Sahne-Sauce tunkte, wenn mich keiner beobachtete. Am Nachmittag waren wir am Badesee und ich durfte mir aussuchen, mit welchem Tretboot wir fuhren. Und dann noch am Abend Pizza und das verrückte künstliche Frutti di Bosco-Eis, um das sich Gretchen so bemüht hatte. Eigentlich war es ein perfekter Geburtstag. Nach diesem Tag lag ich im Bett und dachte wie so oft an Mama. An Mama, wie sie saftige Früchte in unterschiedlichen Rottönen im Garten erntete und sie dabei in ihrer fleckigen Schürze sammelte, weil die Schüssel bereits voll war. An Mama, wie sie den Kochlöffel in ihrer dunkelroten linken Hand hielt und die Sahne mit den Früchten vermischte und in die ratternde alte Eismaschine füllte und dabei vor sich hin summte. An Mama, wie sie immer behauptete, sie hätte die ganze Rührschüssel sauber ausgekratzt und es gäbe deshalb nichts zum Ausschlecken, obwohl sie zuvor immer mit dem Finger die fruchtige Sahne am Schüsselrand wegnaschte. Als ich den Brief ein zweites Mal las, damals an meinem elften Geburtstag, musste ich an meine Mama denken, die tausende Kilometer weit entfernt schlief und meinen Geburtstag verpasst hatte. Bei ihr war schon nach null Uhr, ein neuer Tag hatte für sie bereits begonnen, mein Geburtstag war für sie vorbei und sie war nicht dabei gewesen. Ein Tag wie jeder andere hatte für sie begonnen, für mich stand der nächste wenige Minuten kurz bevor. Ich hätte den Kloß in meinem Bauch und Hals einfach auf das viele ungesunde Essen schieben können, doch wenn ich ehrlich war, war ich traurig. Ich war so traurig, dass mich nicht einmal Mamas Foto tröstete, auf dem sie mit Sonnencreme auf den Bauch eines geduldigen Elefanten geschrieben hatte “In fünf Monaten bin ich wieder bei dir!”. Sie grinste mich auf dem Foto an mit ihren weißen, spitzen Zähnen, was sie immer jung und frech wirken ließ. Ich wollte mit jemandem reden, wollte nicht allein sein. Teresa schlief schon seit zwei Stunden und Papa war sicherlich wie immer vor dem Fernseher eingeschlafen mit einem schalen Bier vor sich auf dem Couchtisch, auf den er nach einem langen Tag immer seine Füße legte. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging ohne groß zu überlegen zu Gretchens Zimmertür. Ich klopfte vorsichtig an und als sie die Tür öffnete und in mein trauriges Gesicht blickte, sah sie mich mit einem Blick an, der zeigte, dass ich jetzt nichts sagen musste, damit sie mich verstand. Sie nahm mich in den Arm und ich roch diesen Duft an ihr, den man immer nur die ersten Minuten nach dem Duschen an sich trägt. Ich schluckte meine Tränen herunter.
“Warte hier auf dem Bett, okay?.” sagte sie zu mir und ich wunderte mich, warum sie auf den Weg in die Küche war. Ich setzte mich auf ihr Bett und blickte mich in dem Gästezimmer um, in dem sie sich nach über einem halben Jahr bei uns endlich gemütlich eingerichtet hatte. Fotos von ihrem Freund, der sie im Arm hielt, beide grinsend über das ganze Gesicht und Fotos ihrer Familie und ihrer Freunde hingen an einer Girlande an der Wand. Deutsche und englischsprachige Bücher standen im Regal, ein Haufen Kleider lag auf dem Schreibtischstuhl und ihr Deutschbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Während ich mich neugierig umsah, ohne etwas zu berühren, hörte ich das quietschende und knarzende Geräusch des Gefrierfachs unseres Kühlschranks. Es klapperte in der Küche und wenig später kam Gretchen mit zwei kleinen Schüsseln in ihr Zimmer und setzte sich neben mich auf das Bett. Sie gab mir eine eiskalte Schüssel und sagte mit ihrem amerikanischen Akzent: “Das Eis schmeckt bestimmt nicht so gut wie das von deiner Mama. Aber glaub mir, Paulina, ich habe heute fast zwei Stunden lang ein Frrruuti di Boscou-Eis gesucht und nur das gefunden. Aber was ich immer noch nicht verstehe, was heißt Frrruuti di Boscou?” Ich lachte leise, während ich das süße Eis auf meiner Zunge genussvoll zergehen ließ, obwohl ich immer noch satt war. Der Geschmack vermischte sich mit dem frischen Pfefferminzgeschmack der Zahnpasta, den ich vom Zähneputzen noch im Mund schmeckte. Nach einer Weile sagte ich zu ihr: “Morgen zeige ich dir die Frutti di Bosco in Omas Garten. Und wenn Mama wieder da ist, darfst du sie und ihr Frutti di Bosco-Eis kennenlernen.”

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