Die Sennerin
Die Zeit vergeht und die Sennerin bekommt davon nichts mit. Hier oben auf der Alm mit Blick auf den immer gleichen Berg, auf die grüne Wiese vor der Hütte und dem Trinkwasserbrunnen sind das Einzige, das sich ändert, ihre Gäste und das Wetter. Seit die trockenen Sommer bereits im April beginnen und im Oktober enden, ist der Trinkwassertank auf der Weide höchstens halb voll.
Neulich kam eine verschwitzte und offensichtlich fast vertrocknete Wanderin vorbei und wollte ihre Glasflasche mit dem Wasser aus dem Brunnen auffüllen. Eine Glasflasche zum Wandern — was für eine Anfängerin. Die Sennerin saß auf einer schrägen Holzbank in der Sonne vor ihrer Hütte, schnitt einen Apfel in kleine Schnitze und beobachtete die Wanderin, der ein kleiner, drahtiger Wanderer den Hügel hinauf folgte. Die Wanderin hielt inne, als sie das Schild sah, auf dem die Sennerin “Kein Trinkwasser” geschrieben hatte. Sie rief etwas in Richtung ihrer Wanderbegleitung und fuchtelte dabei energisch mit ihren Händen vor dem Gesicht herum. In ihrer rechten Hand hielt sie ihre Glasflasche, in der ein Rest Wasser hin und her geschüttelt wurde. In ihrem rosa Oberteil, ihrer pinken, engen Hose und mit rot geschminkten Lippen kam sie auf die Sennerin mit steifen Knien zugelaufen, die von ihrer Holzbank aufstand und Richtung Gatter lief. Der drahtige Wanderer hielt sich im Hintergrund. Er schien zu wissen, was jetzt gleich passieren würde.
Abrupt blieb die Wanderin stehen, straffte ihre muskulösen Schultern und drückte ein “Griasdi” aus ihrem künstlichen Mund. Die Sennerin hob neugierig ihren Blick, um der großen, dünnen Frau in die Augen schauen zu können.
“Warum ko ma des Wasser ausm Brunna ned drinka?”
Den Vorwurf in ihrer Frage konnte die Sennerin nicht überhören. Während sie ihr den Zusammenhang zwischen der Wasserknappheit und dem halb vollen Brunnen mit ungenießbarem Wasser erklärte, kräuselten sich die Lippen der Wanderin zu einer länglichen, runzeligen Rosine zusammen. Währenddessen trank der Wanderer im Hintergrund schnell und heimlich einige Schlucke Wasser aus seiner Flasche.
“Datst du mir an Cappuccino und an Kaskuacha bringa?” fragte sie mit spitzen Lippen.
Die Sennerin musterte das ungleiche Paar und fragte sich, wie weit sie gehen konnte. Langsam rantasten und die Ironie wohldosiert herauslassen.
“Mogst a normale Muich direkt von da Kuah, hoibfett, voifett, oder doch a laktosefreie?”
Die Wanderin schaute ganz begeistert, mit so viel Auswahl wie in der Großstadt hatte sie auf der Alm wohl nicht gerechnet. Volltreffer. Sie stieg voll darauf ein.
“Is der Kaskuacha aa laktosefrei?“
Die Sennerin sah, wie sie ihren hageren Körper anspannte und erwartungsvoll ihre Augen weitete. Mit vollem Ernst schaute sie die Sennerin vorfreudig an, deren Ironie im Kopf der Wanderin nicht ankam. Ihr Wanderbegleiter näherte sich den beiden und grinste die Sennerin an. Sie grinste zurück. Mensch, waren sie gemein.
“Oder mogst a Sojamuich?”
Die Wanderin konnte sich vor lauter Freude kaum halten.
“Ja, ja!!” erwiderte sie und klatschte mehrmals in die Hände, sodass ihre Wanderstöcke, die an ihren Handgelenken baumelten, ein klackendes Geräusch von sich gaben.
“Die kimmt von da Soja Kuah. Des is a neie Rass. Die zücht I om am Berg. Schaugst a moi vorbei wennsd no nauff schaffst ohne Wasser, Cappuccino oder an Kuacha. Des hob i nämlich ois ned da. I bin ja koa Stubn in Schwabing.”
Ihr Wanderbegleiter gab zum ersten Mal einen Laut von sich. Er lachte ein trockenes Lachen und warf dabei seinen Kopf in den Nacken und wippte mit den Knien und wirkte dadurch noch kleiner. Die Sennerin lachte leise mit. Die Wanderin kniff ihre Augen zusammen, blickte zuerst zu ihrer Wanderbegleitung und dann wieder zur Sennerin. Sie stach ihre Wanderstöcke nun energisch in den trockenen Boden und sagte beleidigt, während sie sich von der Hütte abwandte: “Des hätt i mir sparn kenna. Her zum laffa zur Hüttn und dumm omacha zum lossn. Karl, geh ma.”
Der Wanderbegleiter Karl winkte der Sennerin zum Abschied mit einer kurzen Bewegung zu und wünschte ihr einen schönen Tag. Die Wanderin zeterte den ganzen Weg den Hügel hinab. Als sie dann noch eine Absperrung übersahen und auf einem gesperrten Wanderweg liefen, rief die Sennerin beiden noch zu, dass sie dort nicht laufen dürften. Irgendwas mit schlechte Google-Bewertung rief die Wanderin dann in Richtung der Hütte, zu der sie sich nochmal umdrehte. Die Sennerin hatte sich wieder entspannt auf ihre Bank gesetzt und aß nun ihre Apfelschnitze.
“So a rosarote Nuss. Kommt nauf an ihrm frein Dog und macht en sich selbscht madig wege em fählende Kafä und Kuacha. Des muast erst amoi schaffa” sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht zu sich.
Die Sennerin schloss ihre Augen und genoss wieder die Stille, die einkehrte, als das Gezeter hinter dem Hügel verschwand. So vui scheena is da drobn ganz alloa.