Der Mutballon

Franziska Schlegel
8 min readJul 27, 2022

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Sie macht ihn verrückt, diese Wut im Kopf. Sie windet sich durch die Schlingen seines Gehirns, bis zum Hinterkopf und wieder vor bis zur Stirn. Johannes denkt über seine Wut nach, während er mit seinen Zähnen bis zur geröteten wunden Haut an seinem rechten Daumennagel vordringt. Das Nägelkauen konnte er sich nie abgewöhnen, obwohl er weiß, dass es nicht schön aussieht. Sowohl die Finger danach als auch das Kauen an sich. Er denkt darüber nach, dass er nicht wütend sein darf. Und warum er nicht wütend sein darf. So eine schwierige Frage. Wenn er wütend ist, lachen ihn alle aus. “Strohblondes Rotgesicht” nennen ihn seine Mitschüler dann. “Komm runter von deiner Palme!” spottet sein Vater und seine große Schwester Kerstin ging neulich zum Eisfach und kam mit einem blauen Kühlkissen zurück, das sie in sein heißes Gesicht drückte und dabei wie ein verrücktes Pferd wieherte. Der kalte Schmerz und das hässliche Lachen machten ihn noch fünfmal wütender. Wenn er dann die Haare von Kerstins Barbiepuppe abschneidet, ist er wieder der Böse und muss den Keller zur Strafe aufräumen, während sich Kerstin im Spielwarenladen eine neue Barbie aussuchen darf. Als könnte man nicht mit einer Barbie mit Kurzhaarschnitt spielen. Außerdem ist Kerstin zu alt für Barbies. Im Keller sitzt er nun auch schon wieder und nagt an seinem Daumennagel, bis er Blut schmeckt. Irgendeinen Grund findet sein Vater immer, um ihn zur Strafe dorthin zu schicken und ihm eine Beschäftigung zu geben. Die alten Kartoffeln hat er schon von ihren grünen fingerartigen Trieben befreit, die alten stinkenden Zwiebeln hat er aussortiert und die staubigen Weinflaschen hat er abgewischt. Jetzt muss er noch sein Fahrrad putzen, mit dem er gestern wegen seines letzten Wutanfalls bei strömendem Regen durch den Wald gefahren war. Um sich abzureagieren und über die Wut nachzudenken und die Aufgabe seines Vaters: “Johannes, du gehst mir jetzt sofort aus den Augen und denkst darüber nach, was du falsch gemacht hast!” Immer sagen die Erwachsenen so komische Sachen, nie setzt sich einer mal mit einem hin und sagt, was man falsch gemacht hat. Es heißt immer “Denk mal darüber nach, was du falsch gemacht hast. Wenn du das heute nicht herausfindest, gibt es keinen Nachtisch und du gehst sofort nach dem Abendessen ins Bett.” oder “Denk darüber nach, warum du nicht in Kerstins Sommerkleid aus dem Haus gehen kannst!”
Johannes sitzt vor dem Eimer fauler Zwiebeln und den grünen Kartoffeltrieben und denkt wie so oft über seine Wut nach. Sein Daumen schmeckt nicht mehr nur nach Blut, sondern auch nach Erde und einem süßlichen unangenehmen Geschmack. Er nimmt den anderen Daumen zwischen die Zähne, der genauso widerlich schmeckt. Die Wut in seinem Kopf bläst sich immer weiter auf, wird größer wie ein Luftballon, in den man stoßweise Luft hineinpresst und der nun auf seine Kehle drückt. Der Wutballon füllt den ganzen Hals aus und schiebt sich weiter Richtung Brustkorb, weitet die Lungen und die spitzen Rippen und doch platzt er nicht. Johannes denkt über seine Wut nach, die er so oft spürt und wie sie sich eigentlich anfühlt, jetzt im Moment, verpackt in einen Ballon. Er fühlt die Wut plötzlich überall, nicht nur in seinem Kopf. Sie schiebt sich weiter Richtung Bauch und macht es sich dort gemütlich. Dort bleibt sie erst einmal eine Weile unbeweglich und schwerfällig sitzen, während Johannes versucht ein- und auszuatmen, wie diese Frau das immer zu ihm sagt. Zweimal im Monat geht er seit einem halben Jahr zu der Frau, die ihm komplizierte Fragen stellt und ihn Sachen malen lässt und seine Mama sitzt immer daneben und schaut ihm dabei stumm zu. Dann schreibt die Frau irgendwas in ihr Heft und schaut ernst. Manchmal lächelt sie auch, aber das wirkt immer wie bei seinem Vater, der sich einmal in der Woche daran erinnert, dass er auch mal nett sein muss. Dann setzt er ein künstliches Lächeln auf, das nach ein paar Sekunden wieder aus seinem Gesicht fällt. Als wäre es anstrengend für ihn, seine Mundwinkel fünf Millimeter für fünf Sekunden zu heben. Seine Mutter hingegen lächelt oft. Sie lächelt meistens nicht nur, sie lacht. Dann glänzen ihre Augen und sie schafft es nicht mehr, ihre schrägen Eckzähne hinter ihren zusammengepressten Lippen zu verstecken. So sehr will das Lachen raus. Wenn Johannes merkt, dass sie gute Laune hat, dann denkt er nicht mehr an seine Wut. “Du bist eindeutig ein Mamakind!” sagt seine Oma oft und lächelt dabei, daher geht Johannes davon aus, dass das etwas Gutes ist. Er würde behaupten, dass er sowohl ein Mama- als auch ein Papakind ist, schließlich haben sie ihn ja beide gemacht. Aber da seine Mama ihn immer irgendwann mit ihrer klaren Stimme aus dem Keller ruft und nicht sein Vater, der ihn dorthin schickt, ist sie wohl diejenige, die weiß, wie es ihrem Mamakind geht und wann es genug ist. Genug mit dem Kind-Bestrafen und dem Im-dunklen-Keller-Arbeiten-Lassen. Sein Vater ist auch manchmal stolz auf ihn, immer dann, wenn Johannes nicht wütend ist und das macht, was sein Vater will. Gute Noten nach Hause bringen, der Schnellste im Sprinten sein, anständig essen oder sein Zimmer aufräumen, ohne dazu aufgefordert zu werden. Letzte Woche hatte Johannes nur fünf Fehler im Vokabeltest und seinem Vater stolz das Heft gezeigt. Der hatte wohl vergessen, dass das ein Fortschritt war, schließlich hatte er sonst immer mindestens zehn Fehler. Aber sein Vater sagte nur: “Für diese ganzen Flüchtigkeitsfehler bestraft dich irgendwann das Leben.” Johannes wusste nichts mit diesem Satz anzufangen, aber der Ton, in dem er ausgesprochen wurde, ließ ihn sofort wieder an seinen Fingernägeln kauen. Offensichtlich waren fünf Fehler immer noch nicht gut genug. Er riss die leicht angetrocknete süßlich schmeckende Wunde am Daumen auf, während er schon wieder aus Gewohnheit auf dem Weg in den Keller war, obwohl er sich zurückhielt mit seiner Wut. Irgendwie hatte er sich schon daran gewöhnt, dort seinen Gedanken nachzuhängen, um Antworten auf die komischen Fragen zu finden und um die Aussagen seines Vaters zu verstehen, während er irgendetwas zum Aufräumen oder Putzen fand.
Als Johannes keine verfaulten Zwiebeln mehr findet und alle Kartoffeltriebe entfernt hat, füllt er einen Putzeimer mit kaltem Wasser und läuft Richtung Garage, wo sein dreckiges Fahrrad mit einem halben Meter Abstand neben den anderen Fahrrädern der Familienmitglieder steht. Als dürfte es nicht nah bei den sauberen Rädern stehen, die eine Gruppe bilden, die Lenker zueinander gedreht, als würden sie über das dreckige Rad tuscheln: “Schau dir den mal an, den Drahtesel. Steht da blöd rum, fast den ganzen Tag verbringt er schmutzig im Keller.” Johannes stellt sich vor, wie seine Eltern und Kerstin gerade oben im Wohnzimmer zusammen auf das Sofa gekuschelt sitzen und über ihn lachen, über den Esel, der fast den ganzen Tag im Keller verbringt, weil er wieder was angestellt hat. Er dreht den Schlüssel im Schloss des alten Garagentors und schiebt sein Fahrrad nach draußen in die Einfahrt. Er nimmt einen alten Scheuerlappen und beginnt zu schrubben. In jede Ecke des Rahmens drückt er den kalten nassen Lappen, mit seinen kurzen Nägeln kratzt er den Dreck aus jeder Ritze, bis seine geschundenen und abgenagten Fingerkuppen bluten. Er steckt alle Finger nacheinander in den Mund und bedeckt sie mit warmem Speichel, um den brennenden Schmerz zu lindern und schmeckt eine bittere Mischung aus Erde und Kettenöl. Sogar mit einer alten Zahnbürste entfernt er den öligen schwarzen Dreck aus der Fahrradkette. “Ich fahre gerne durch den Matsch und mit einem dreckigen Fahrrad zu fahren stört mich nicht!”, hatte er hastig zu seinen Eltern gesagt, als er den vorwurfsvollen Blick sah, den sie ihm gestern nach seiner Rückkehr aus dem nassen Wald zuwarfen. Aber da wusste er schon, dass es nie darum geht, was er möchte oder nicht möchte, sondern um das “was halt gemacht werden muss”: Fahrrad putzen, genauso wie alte Zwiebeln entsorgen und Kartoffeln von ihren Trieben entfernen. Als Johannes‘ Fahrrad sauber glänzend vor ihm steht, fällt ihm auf, dass er es nicht weit genug in die Einfahrt geschoben hat und er es unter dem Vordach geputzt hatte, wo kein Regenwasser den Dreck wegwaschen könnte. Schnell nimmt er ein sauberes Tuch, das auf dem Motorrad seines Vaters liegt und schrubbt mit klarem Wasser den Dreck von den Pflastersteinen in der Einfahrt, er schrubbt und schrubbt. Er läuft mehrmals hektisch zum Wasserhahn, um den Eimer neu zu befüllen und blickt irgendwann panisch auf den nass und fettig glänzenden dunklen Fleck auf den Steinen, den er nicht weggeschrubbt bekommt. Sein Vater wird sicher gleich kommen und all das sehen, was er schon wieder falsch gemacht und vergessen hat: Das Fahrrad immer außerhalb des Vordachs putzen, die Kette nur dann putzen, wenn eine große Plastikfolie drunter liegt, kein Tuch benutzen, das sein Vater zum Motorrad polieren nimmt und außerdem am besten gar nicht mehr durch den Dreck fahren. Am besten gar nicht mehr da sein, in diesem Haus, als Teil dieser Familie. Johannes‘ Panik hatte ihn die letzten Minuten, seit er seinen Fehler und die möglichen Konsequenzen erkannt hat, vollkommen von seiner Wut abgelenkt. Doch der ausgeleierte Wutballon füllt sich sofort wieder mit neuer frischer Wut, oder ist es immer dieselbe Wut? Mit der Wut darauf, dass sein Vater ihn verunsichert und in ihm eine Angst davor auslöst, dass er zu jeder Zeit und in jeder Situation einen Fehler machen könnte. Wie bei einem echten Ballon, den man schon einmal aufgeblasen hatte, füllt sich der Wutballon nun viel schneller und viel leichter und gibt ihm Kraft. Johannes wird etwas klar in diesem Moment. In seinem Kinderkörper, der ausgefüllt ist mit dem prallen Wutballon, wächst eine Erkenntnis: “Ich muss mich wehren”. Er ist aufgeregt und kann kaum noch klar denken, fühlt aber dafür umso klarer. Er fühlt wieder die brennende Wut, aber dieses Mal mischt sich eine neues Gefühl hinzu. Er kann es nicht genau benennen, weil es sich so neu anfühlt. Es gibt ihm Kraft, so viel Kraft, dass ihm schwindelig wird. Er schaut noch einmal zu den fettigen dunklen Flecken in der Einfahrt und dem dreckigen Tuch, das sein Vater nun nicht mehr zum Motorrad polieren nehmen kann. Der Anblick hat ihm noch vor wenigen Augenblicken Panik in den Kopf getrieben, nun ist es ihm egal. Er atmet tief ein und rennt die Kellertreppe nach oben. Sein Vater steht in der Küche mit dem Rücken zur Tür und schneidet Gemüse für das Abendessen. Kurz überlegt Johannes, ob er sich besser fühlen würde, wenn er wüsste, dass seine Mutter in der Nähe ist. Er schaut auf seine roten wunden Fingerkuppen und zwingt sich, sie nicht wieder in den Mund zu schieben und nervös darauf zu kauen. Er will auf seiner ganzen Hand kauen, damit er jetzt kein falsches Wort sagen kann. Er atmet schneller und seine Gedanken rauschen wie ein Wasserfall in seinem Kopf. Wie ein roter Wasserfall, der heiß durch seinen Kopf rauscht. Der Wutballon ist so prall gefüllt wie noch nie, er spürt ihn überall, aber zu ihm mischt sich dieses neue kraftvolle Gefühl. “Ich gehe nicht mehr in den Keller!” sagt er atemlos, aber er spricht bestimmter als sonst, nur ein kurzes Stottern kommt über seine Lippen. Sein Vater dreht sich langsam zu ihm um und unterbricht das Gemüseschneiden. “Du glaubst also, du bist schon fertig” sagt er. Es ist keine Frage. Er fragt nicht nach, warum Johannes nicht mehr in den Keller geht. Das “also” schiebt er in den trocken ausgesprochenen Satz und will Johannes mit der unterschwelligen Frage, wie er darauf komme, ohne Erlaubnis nach oben kommen zu dürfen, verunsichern. Sein Vater schaut Johannes noch einige Sekunden an und dreht sich dann wieder zum Schneidebrett um. Man hört nur das hackende Geräusch des Gemüsemessers. Johannes‘ Vater wartet sicher darauf, dass Johannes einen Wutanfall bekommt, weil er ignoriert wird, wie er da steht mit seinem neuen Gefühl. Doch diese neue Kraft, die Johannes‘ Wutballon durchmischt, hält ihn davon ab. Die Wut ist immer noch da, aber diese Kraft auch. Sie wird immer stärker und Johannes fühlt sich gut. So wird in seinem Körper Platz gemacht für dieses neue Gefühl. Platz für den Mutballon.

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