Im Sonnenviereck

Franziska Schlegel
6 min readSep 29, 2022

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by drmakete lab on pexels

Schon zum zweiten Mal diese Woche frage ich mich, wer hier wen tröstet. Seit Längerem spüre ich dieses Ungleichgewicht in unserer Freundschaft, das früher nicht da war. Oder ich habe es einfach nicht wahrgenommen. Vor drei Sätzen waren wir noch an dem Punkt, an dem mir immer die Tränen kommen und nun sitzt Mia heulend vor mir an meinem Esstisch. Ich schmecke den salzigen Kloß in meinem Hals, als würden meine Tränen abrupt einen Richtungswechsel halsabwärts nehmen. Sorry! Mia hat heute keine Kapazitäten, um euch zu trocknen, denke ich und sehe, wie Mia ihre schwarzbraunen Mascaraschlieren mit einem Taschentuch von der obersten Make-Up-Schicht ihrer Wange wischt. „Ich reiß’ mich ja zusammen, aber ich schaffe es nicht. Und dabei weiß ich, dass es um dich geht.” Sie schnäuzt einmal kräftig in ihr schmutziges Taschentuch und schaut aus dem Fenster, durch das die Sonne in das Wohnzimmer scheint. „Um deinen Schmerz, der nicht meiner ist.” Sie meidet weiterhin meinen Blick und macht eine fächernde Bewegung mit ihrer rechten Hand auf Brusthöhe, als wäre es jetzt übertrieben, nach all den ausgesprochenen Gefühlen noch die Hand aufs Herz zu legen. „Ich weiß, dass du das hasst, wenn ich leide, wenn du leidest. Weil du dann wahrscheinlich denkst, ich würde dich nicht ernst nehmen und von dir und deinen Gefühlen ablenken wollen. Als wären deine Gefühle so austauschbar, dass ich sie mir einfach überstülpen kann.” Ich habe mich in letzter Zeit immer gefragt, was mich an ihrer Art mit meiner Trauer umzugehen stört und so habe ich noch nie darüber nachgedacht. Ja, es stört mich, dass sie meine Gefühle übernimmt und sie dadurch an Bedeutsamkeit verlieren. So wie sie bei meinem ersten Liebeskummer vor bald zwanzig Jahren statt tröstender Worte zu finden davon erzählte, dass ihr Schwarm sie ignorieren würde und sie deshalb todtraurig sei. Mein eckiger und spitzer Schmerz irgendwo da drin, irgendwo in mir, hält mich davon ab jetzt sanft und nett zu sein, wie ich es sonst immer bin, wenn Mia heulend vor mir sitzt. Genau wie beim letzten Mal, als Mia und ich uns trafen und ich mir so sehr gewünscht habe, dass sich nach dem Gespräch meine Probleme leichter anfühlen, nicht mehr so die Brust einschnüren, in die Magengegend stechen und die Schultern nach unten drücken. Dabei hatte ich danach noch mehr Gedanken, die mich nicht losließen, schließlich hatte sie wieder das Gespräch in ihre Richtung gelenkt. In Richtung ihrer Gedanken, Gefühle und Probleme, die einschnüren, stechen und drücken. Sie senkt ihren Blick und beginnt, kleine Fetzen vom trockenen Rest des nassen Taschentuchs abzureißen. „Ich hasse diesen Spruch Geteiltes Leid ist halbes Leid…das stimmt bei mir nicht. Ich leide immer mit.” Ich merke, dass es ihr unangenehm ist, dass sie immer die Fassung verliert, wenn es mir schlecht geht und mich somit nicht trösten kann. Weil sie eigentlich stark ist. Und laut und fröhlich und optimistisch. Sie steht auf und geht zum Fenster neben dem Esstisch und versucht sich abzulenken, indem sie an meinem vertrockneten Bonsai herumzupft und eine Weile schweigt sie. Dann dreht sie sich plötzlich schnell zu mir um und stößt mit ihrem Ellbogen gegen einen vertrockneten Ast des Bonsais, der raschelnd ein paar Blätter zu Boden fallen lässt, als hätte ihn der plötzliche Stimmungswechsel erschreckt. “Man, Nicki, mich lähmt das alles total. So gerne würde ich dir helfen, aber ich bin keine Therapeutin!” Fast vorwurfsvoll schaut Mia mich einige Sekunden an, bis ich trocken sage: “Und jetzt leidest du, weil du leidest.” Es ist mein erster Satz seit einigen Minuten und Mia schaut überrascht, dass ich meinen Mund aufmache, um dann solche harten Worte auszusprechen. Ich habe so lange geschwiegen und nachgedacht und Mia zugehört, dass sich meine Zunge zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen meines angespannten Kiefers festgesaugt hatte. Meine Zunge wurde immer schwerer und fühlt sich beim Sprechen nun taub an. Ich sehe, wie Mia mühsam ihre Enttäuschung darüber hinunterschluckt, dass ich sie nicht wie sonst in den Arm nehme und stattdessen direkt sage, was ich von ihrem Verhalten denke, das mich nervt. Sie schaut mich mit ihrem trotzigen Mia-Blick an. „Ja, ich leide, weil ich leide, weil du leidest. Weil Mitfühlen manchmal verdammt anstrengend sein kann. Wäre es dir lieber, wenn ich ausdruckslos dasitze und nichts sage und dabei denke, dass ich froh bin, nicht deine Probleme zu haben?” Ich presse meine Lippen zusammen und schmecke den süßen Geschmack des Kuchens, den wir vorhin gegessen hatten, dessen zerkrümelten Reste vor mir liegen. Mia bückt sich, um die vertrockneten Bonsai-Blätter vom Boden aufzusammeln und lässt sie auf ihren leeren Kuchenteller fallen. Ich starre das leuchtende gelbe Viereck an, das die Sonne durch das Fenster in mein Wohnzimmer wirft, das von der Wand in Richtung Sofa wandert, wo ich mich jetzt am liebsten hinlegen würde. Mitten in das wärmende Viereck will ich mich legen, damit ich vor lauter blendendem Sonnenlicht Mia für einen Moment nicht sehen muss. „Klar darfst du froh darüber sein, nicht meine Probleme zu haben! Aber ich will nicht, dass du jedes Mal Situationen herauskramst, in denen es dir angeblich ging wie mir.“ Mia scheint dieses Gespräch nervös zu machen, da sie sich mit den Bonsai-Blättern beschäftigt, die sie zwischen ihren Fingern zu Blätterstaub zerkrümelt. Ich schließe kurz meine Augen, um zu überlegen, was ich eigentlich sagen will und welche Worte das am besten ausdrücken. Weniger reden, mehr sagen. „Lass es doch einfach mal so stehen, wenn ich dir sage, wie es mir geht. Frag nach, was ich dann im Moment brauche. Ob ich überhaupt Trost will. Oder sag einfach mal nichts. Wenn dir die Tränen kommen, weil du mitleidest oder du dich an etwas erinnert fühlst, dann lass sie still raus. Aber lass mir meinen Raum zum Traurigsein mit meinen Gefühlen, ohne dass du in den Raum stürmst mit deinen Gefühlen und Erinnerungen. Doppeltes Leid hat da keinen Platz drin.“ Zu Beginn habe ich meine Worte in Richtung des Sonnenvierecks geworfen. Nun schaue ich Mia direkt an, deren Augen noch rot, aber kaum noch tränenunterlaufen sind. Meine Härte verschwindet nur langsam, zu lange habe ich mir die letzten Wochen Gedanken darüber gemacht, was mich eigentlich stört an Mias Verhalten. Sie setzt sich zurück an den Tisch und starrt die grünbraunen Bonsaiblätterkrümel auf ihrem Teller an, die sie zu einem kleinen Haufen zusammenschiebt. Ihre Schultern sind angespannt und ich frage mich, ob sie sich gerade zu einer Rechtfertigung oder zu einer Entschuldigung durchringt. Ich schaue dem Sonnenviereck bei seiner langsamen Wanderung zu und beobachte den Staub, der in den Sonnenstrahlen über dem Esstisch tanzt. Nach einer Weile entspannen sich Mias Schultern etwas und sie setzt sich näher an den Tisch, um meine Hand berühren zu können. Mit ihrem Zeigefinger berührt sie meinen Leberfleck in der Mitte meines rechten Handrückens. Das hat sie schon als Kind immer gemacht, wenn wir zusammen in den Strohballen auf dem Bauernhof meiner Großeltern lagen und unsere Leberflecken zählten. Sie war so begeistert von meinem Leberfleck auf der Hand, weil sie meinte, er hätte die Form einer Himbeere. Himbeerfleck hat sie ihn immer genannt. Sie legt nun ihre Hand auf meine Hand. „Es tut mir Leid, dass ich oft so ichbezogen bin. Ich glaube, ich versuche dadurch von meinem Mitgefühl abzulenken, das dich vermutlich irritiert und oft unangemessen erscheint. Dann scheinen meine Tränen in dem Moment wenigstens gerechtfertigt zu sein, wenn ich Situationen aus meiner Gefühlswelt erzähle.” Nach einer Weile ergänzt sie: „Und vielleicht schaffe ich es, dass irgendwann aus dem Doppel-Leid ein Eindreiviertel-Leid wird, nach und nach.” Sie lächelt. Ich lege meine Hand oben auf ihre Hand und sie ergänzt unseren Handstapel durch ihre andere Hand. Wir lachen beide leise und ich spüre die angenehme Wärme und Schwere unserer Hände auf meiner Hand, die unten auf dem Tisch liegt. Der Ärger in mir weicht einem angenehmeren Gefühl. Ist es Vergebung? Einsicht? Akzeptanz, dass Mia sich nicht von jetzt auf nachher ändern kann? Ich schaue nochmal zu dem Sonnenviereck, das inzwischen von der Wand vollständig auf das Sofa gewandert ist und möchte Mia nicht mehr böse sein, sondern einfach nur mit ihr die letzten Sonnenstrahlen genießen. So wie früher im Stroh. „Lass uns in das Sonnenviereck liegen, bevor es für heute verschwunden ist“ sage ich.

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